

Weniger ist weniger - über den digitalen Minimalismus
Was man länger als zwölf Monate nicht benutzt hat, das braucht man nicht mehr. So lautet das Credo der Japanerin Hideko Yamashita, einer der Urmütter des modernen Minimalismus.
Nach dieser Regel lebt auch der Blogger Sebastian Küpers. Wo der Durchschnitts-Deutsche sich mit rund 10.000 Gegenständen durchs Leben schleppt, besitzt Küpers nach eigenen Angaben heute weniger als 100. Einer davon ist ein iPad.
Nun ist die Idee des Minimalismus nicht neu. Johannes Boie zieht in der Süddeutschen Zeitung (SZ vom 31.8.2013, leider nicht online) eine Linie bis zu Diogenes – das ist der mit der Tonne –, der schon vor zweieinhalb Jahrtausenden sein Leben in freiwilliger Armut verbrachte. Tatsächlich ist die Geschichte voll von Menschen, die Erkenntnisgewinn und Zufriedenheit im bewussten Entsagen suchen. Relativ neu ist dabei die Rolle von Digitalisierung und Vernetzung über das Internet. Es ist ja kein Zufall, dass Sebastian Küpers auf sein Tablet eben nicht verzichtet – und dass er betont, nicht mehr als 100 „physische Dinge“ zu besitzen. „Virtuelle Dinge“, so könnte man ergänzen, kommen noch einige dazu.
So auch bei Michael Klumb, der im Blog „minimalismus leben“ über seinen reduzierten Alltag berichtet. Dort beschreibt er auch einen wichtigen Antrieb für den Entschluss, sein Leben grundlegend zu ändern – und den dürfte er mit vielen urbanen Zeitgenossen teilen: knappen Wohnraum: „Ich selbst lebe auf 42qm und habe mit dem Minimalismus angefangen um mehr Platz in meinem Leben zu schaffen. Seitdem sind 150 Bücher, 2000 Cds, 50 DVDs der halbe Kleiderschrank und einiges andere aus meinem Leben verschwunden.“ Vieles, von dem Klumb sich verabschiedet hat, lässt sich also heute bequem digitalisieren und auf ein paar Festplatten oder direkt in der Cloud speichern.
Kathrin Passig, Bloggerin, Autorin, Internet-Vor- und Nachdenkerin, hat diesen digitalen Minimalismus am Beispiel ihres privaten Bücherkonsums durchgespielt: Früher sei sie eine „obsessive Buchkäuferin“ gewesen, aber dann habe ihr Interesse am physischen Besitz von Papier immer mehr nachgelassen, so Passig. Und dass nicht nur, weil sich Bücher heute auf vielen E-Readern (z.B. auf dem von der Telekom mitentwickelten Tolino), auf Tablets oder Smartphones platzschonend speichern und immer komfortabler lesen lassen. Nein, auch die Funktion des Bücherregals als intellektuelle Visitenkarte ihres Besitzers sei mehr und mehr hinfällig: „Die ökologische Nische der Selbstdarstellung via Bücherregal wird von der Selbstpräsentation im Internet gefüllt, die zu geringeren Kosten viel feinere Differenzierungsmöglichkeiten eröffnet.“ Heute tauschen sich die Leser in sozialen Netzwerken aus, Passig selbst zum Beispiel dokumentiert und bewertet ihre Lektüre akribisch auf der Plattform Goodreads.
Was für Bücher gilt, gilt erst recht für Musik: In wie vielen Haushalten ist die einst stolz zusammengestellte HiFi-Anlage längst durch ein kompaktes digitales Abspielgerät ersetzt worden? Ich selbst habe meinen mechanischen Plattenspieler schon vor Jahren behutsam eingemottet, weil auf einmal Kinder im Haus waren und ich Angst um die sündhaft teure Diamant-Nadel hatte. Zurückgeholt habe ich ihn nie mehr. Noch kaufe, besitze und höre ich CDs, aber längst konsumiere ich gleichwertig Musik, die auf meinem Smartphone oder in der Cloud gespeichert ist – Minimalismus light, wenn man so will. Noch weiter geht, wer auch auf den Besitz digitaler Musik komplett verzichtet und stattdessen Streaming-Dienste wie Spotify nutzt. Immer mehr Menschen tun das und haben so Zugriff auf viele Millionen Titel – wo immer und wann immer sie wollen.
Die Liste solcher digitalen Dienste, die das minimalistische Leben erleichtern, ließe sich fortsetzen. So können etwa Telekom-Kunden in Deutschland und vielen weiteren europäischen Ländern die Premium-Version von Evernote für sechs bis zwölf Monate kostenlos nutzen. Damit lassen sich beliebige Fundstücke aus dem Internet bequem per Knopfdruck speichern, bearbeiten und archivieren. Für mich ist Evernote längst so etwas wie mein zweites, digitales Gedächtnis geworden – und beinahe unverzichtbar.
Ich will aber auch nicht verschweigen, dass mir – als in den 1980ern und 90ern sozialisierten Menschen – diese ganze Entwicklung nicht in jedem Moment geheuer ist. So habe ich meine LP-Sammlung noch nicht aufgegeben, obwohl ich sie seit Jahren nicht mehr angerührt habe. Zu viel Herzblut hängt für mich noch immer an solchen analogen Dingen. Aber wie erklärt man der Generation Spotify, dass es einmal eine Frage der Haltung war, in was für einer Tüte (!) man seine Vinyl-Alben transportierte (nämlich nur mit dem Aufdruck eines angesagten, möglichst nicht zu bekannten Plattenladens; unter keinen Umständen durfte es etwas Artfremdes sein wie ein Sportgeschäft oder gar ein Lebensmittel-Discounter).
Am besten man lässt es – also das Erklären jetzt. Und gibt zu, dass der Trend zum Minimalismus auch ökologisch einiges für sich hat. 29 Kilo Sperrmüll produziert der Deutsche im Schnitt pro Kopf und Jahr. Eines ist sicher: Der Minimalist bleibt auf Dauer deutlich darunter.