Was am 5G-Mythos wirklich dran ist
Funklöcher stopfen, das Smartphone neu erfinden und die Geschäftsmodelle der Unternehmen revolutionieren. Was von den Zauberkräften von 5G wirklich zu halten ist.
Wie bringen wir Mobilfunksignale dazu, durch dicke Mauern zu dringen, ohne zu schwächeln? Oder Metall zu überwinden? Solche Fragen treiben mich und meine Kollegen gerade um. Denn mit den höher liegenden Frequenzbändern des neuen 5G-Standards verschärft sich die Herausforderung, auch Innenräume zuverlässig mit schnellen Mobilfunkverbindungen abzudecken. Abhilfe verspricht ein neuer Repeater, für den wir gerade Tester suchen. Ihr könnt euch vorstellen, dass ich für dieses Projekt zurzeit sehr genau verfolge, was zum Thema 5G publiziert wird. Schon erstaunlich, mit welchen Erwartungen, Hoffnungen und Ängsten der neue Mobilfunkstandard überfrachtet wird. Dem einen gilt er als Heilsbringer, dem anderen als Teufelszeug. Mit 5G wird alles möglich, so scheint es – vom autonomen Fahren bis zum digitalen Geschäftsmodell. Verschwörungstheoretiker unterstellen dem neuen Mobilfunkstandard, dass er das Immunsystem schwäche und bringen 5G sogar mit dem Coronavirus in Verbindung.
Die wichtigsten 5G-Annahmen
Im Gartner-Hype-Zyklus - er beschreibt die Phasen der öffentlichen Aufmerksamkeit, die eine neue Technologie bei ihrer Einführung durchläuft – ist 5G gerade auf dem Gipfel der überzogenen Erwartungen angekommen. Höchste Zeit also, sich mit den gängigsten Behauptungen rund um den neuen Mobilfunkstandard kritisch auseinanderzusetzen:
- 5G macht Tempo beim autonomen Fahren
Eine typische Latenz im LTE-Netz liegt etwa bei 50 Millisekunden – ist also jene Zeit, die vergeht, bis ein digitales Signal vom Sender zum Ziel und zurück gelangt. Im 5G-Netz sinkt diese Reaktionszeit auf wenige Millisekunden. Ist 5G damit automatisch der Turbo fürs autonome Fahren? Wohl kaum. Ich kann mir keine Zulassungsbehörde vorstellen, der eine Mobilfunkanbindung als Voraussetzung für den Betrieb eines autonomen Wagens genügte. Selbstständig fahren muss das Auto auch allein können. Dennoch gibt es einen wahren Kern. Denn an die 5G-Frequenzvergabe sind zahlreiche Netzausbauverpflichtungen gekoppelt. Zeitlich gestaffelt schreiben diese Auflagen eine Netzabdeckung mit 50 bis 100 Mbps auf kritischen Verkehrswegen vor – was natürlich auch mit der 4G/LTE-Technologie erreicht werden kann. Die Netzabdeckung ist wichtig, weil wir für das autonome Fahren zum Beispiel hochauflösendes Kartenmaterial benötigen: Im Auto selbst erfolgt die Routenkalkulation erst einmal mit groben Daten. Die Detailinformationen – etwa wie scharf die nächste Kurve ist– lädt sich der Wagen dann während der Fahrt über das Mobilfunknetz herunter. Daraus lässt sich dann die optimale Fahrgeschwindigkeit berechnen. 5G ist dafür aber nicht zwingend erforderlich. - 5G erweitert die Möglichkeiten des Smartphones
Zunächst einmal: 5G stopft keine Funklöcher – hier müssen wir LTE weiter ausbauen. Genau das tut die Telekom auch. Ich vermute, dass der Privatkunde den Übergang von 4G auf 5G gar nicht bemerken wird. Denn für die Anwendungen, die er heute nutzt, kommen wir mit den Bandbreiten und Latenzzeiten von 4G gut zurecht. Bestes Beispiel sind die Videokonferenzen, die während der Corona-Krise an Bedeutung gewonnen haben und an denen wir immer wieder problemlos auch per Smartphone teilnehmen. Und wer sich ein Netflix-Video anschauen möchte, der braucht dafür keine 500 Megabit pro Sekunde. 5G wird für Privatkunden erst dann einen Unterschied machen, wenn dafür neue Anwendungen und Geräte entwickelt werden. - 5G verpasst dem Mobile Gaming einen Schub
Mein Bruder geht gut als Hardcore-Gamer durch. Wartet er wegen der geringeren Latenzen nun sehnsüchtig auf 5G? Eigentlich nicht. Natürlich spielt er aber auch unterwegs mal auf seinem Smartphone. Aber als echter Gamer setzt er sich sowieso lieber in aller Ruhe vor den PC oder die Konsole und wird an 5G weitgehend vorbeikommen. - 5G beschleunigt die Smart Factory
Mit 5G können Unternehmer auf Werksgeländen und Fabriken ein eigenes kleines Mobilfunknetz betreiben – und damit kabelgebundene Netze ersetzen. Aber grundsätzlich funktioniert dies auch über 4G. Dank der so genannten Campus-Netze können Unternehmen schon jetzt Maschinen aus der Ferne warten oder notwendige Änderungen im Produktionsprozess online vornehmen. Heißt: Ob Unternehmen ins Internet of Things (Iot) einsteigen, ist eher eine Management-Entscheidung – und für die meisten Anwendungen keine Frage der 5G-Verfügbarkeit. Zumal viele IoT-Anwendungen weder hohe Bandbreiten noch geringe Latenzen benötigen, sondern lediglich eine verlässliche Übertragung kleiner Datenpakete. Diese Anforderungen lassen sich oft mit dem Maschinen- und Sensorennetz NarrowBand IoT hervorragend abdecken.
Selbstverständlich bringt 5G weitere Vorteile. Denn damit lassen sich auf der Basis einer gemeinsamen Infrastruktur verschiedene virtuelle Netze aufbauen. Mit diesem Network Slicing erhalten unterschiedliche Anwendungen oder Kunden exakt die jeweils benötigten Ressourcen. Die Slices stellen auch in Extremsituationen die Qualitätseigenschaften (Verfügbarkeit, Bandbreite, Latenz) sicher. Damit könnten auch Polizei oder Feuerwehr die Mobilfunkinfrastruktur mitnutzen und so Kosten für eine separate Infrastruktur wie den digitalen Behördenfunk Tetra sparen. -
Auf diesem Feld verspreche ich mir viel von 5G: Denn Virtual und Augmented Reality sind als digitale Hilfsmittel nahezu überall denkbar – im Produktdesign genauso wie im Engineering, bei der virtuellen Fabrikplanung ebenso wie in Marketing und Vertrieb. AR erleichtert die Arbeit von Monteuren und technischen Servicekräften erheblich. Noch aber werden diese Technologien nur selten eingesetzt. Was ihnen fehlt, ist ein Datenfluss in Echtzeit. Denn für das VR- oder AR-Erlebnis macht eine Latenz von 10ms oder 35ms einen Riesenunterschied. Für die Wahrnehmung ist es entscheidend, ob ein Avatar genau auf der Tischplatte steht oder doch bei Bewegungen plötzlich darüber schwebt oder darin versinkt. Doch wenn 5G Mixed Reality befeuern soll, brauchen wir dafür geeignete Endgeräte (Brillen), verfügbare Anwendungen und Daten. Bis diese breit und kostengünstig verfügbar sind, ist es noch ein weiter Weg. Der Mobilfunkstandard allein wird es definitiv nicht richten.
Deutlich mehr Mixed Reality dank 5G
5G automatisiert keine klugen Entscheidungen
Damit wir uns nicht missverstehen: Selbstverständlich brauchen wir 5G, um künftigen Anforderungen gewachsen zu sein und um ganz neue digitale Anwendungen zu entwickeln. Aber ich möchte vermeiden, dass wir vom Gipfel der überzogenen Erwartungen bald schon in die Tiefen des Tals der Enttäuschungen abrutschen. Denn mit 5G wird nicht automatisch alles besser – viele digitale Technologien können wir schon heute mit 4G umsetzen. Hinzu kommt, dass wir für 5G geeignete Anwendungen und Geräte entwickeln müssen, um wirklich von dessen Vorzügen zu profitieren. Und auch künftig müssen sich Unternehmen aktiv dafür entscheiden, in Zukunftstechnologien wie das Internet der Dinge, in Big Data oder Künstliche Intelligenz zu investieren. Denn klar ist: Auch der beste Mobilfunkstandard liefert neue digitale Geschäftsmodelle nicht einfach mit.